Kognitive Verzerrungen - wie uns unser Verstand in die Irre führt 😵💫
- Many S. Hertach
- 28. Apr.
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 29. Apr.
Stell Dir vor, Du stehst vor einem grösseren Change-Projekt und musst Dein Führungsteam von der Notwendigkeit der Veränderung überzeugen. Plötzlich äussert eine Führungsperson Bedenken und sagt: «So ein ähnliches Projekt haben wir doch auch schon mal durchgeführt und damals ging das ganze ziemlich schief. Wollen wir das wirklich nochmals riskieren oder lassen wir es nicht lieber so, wie es ist?» Möglicherweise ging tatsächlich ein früheres Change-Projekt schon mal richtig nach hinten los und Du wirst nach dieser Aussage selbst unsicher, ob Du auf dem richtigen Weg bist und das Projekt sinnvoll ist. Hier schlägt möglicherweise die sogenannte Verfügbarkeitsheuristik zu: Weil ein früheres Ereignis besonders präsent ist, kann unser Gehirn dieses unter Umständen als Referenzwert nehmen und durch die negativen Erinnerungen Unsicherheit auslösen und unsere Entscheidungen in Bezug auf das aktuelle Vorhaben massgeblich mitprägen. Das kann auch erfahrenen Führungskräften passieren. Kognitive Verzerrungen beeinflussen unsere Entscheidungen oft unbewusst und können im schlimmsten Fall zu schwerwiegenden Fehlurteilen führen.

Zu welchem Arzt auf diesem Bild hättest Du ganz spontan mehr Vertrauen? Lies weiter unten, ob Du ggf. dem sogenannten Halo-Effekt zum Opfer gefallen bist 😉 (Bildquelle: self-generated | HertachCoaching (2025)
Was sind kognitive Verzerrungen und was sind Heuristiken?
Unser Gehirn trifft täglich tausende Entscheidungen, die meisten davon unbewusst. Es filtert, bewertet, interpretiert – alles in Lichtgeschwindigkeit. Häufig müssen Entscheidungen auch unter Zeitdruck gefällt werden. Dabei bedient sich unser Gehirn an ‹mentalen Abkürzungen›, sogenannten Heuristiken. Diese Heuristiken sind in vielen Lebensbereichen sehr hilfreich und führen häufig auch zu guten und sinnvollen Entscheidungen. Heuristiken sind also schnelle, intuitive Denkstrategien – wie ein inneres Navi, das uns den Weg weist, ohne jede Karte im Detail zu prüfen. Sie ermöglichen uns, auch mit unvollständigen Informationen handlungsfähig zu bleiben. Problematisch wird es, wenn diese Abkürzungen systematisch zu Fehlurteilen führen – dann sprechen wir von kognitiven Verzerrungen (engl. cognitive bias). Das sind Denkfehler, die sich durch die Anwendung von Heuristiken oder durch emotionale, soziale und kognitive Einflüsse einschleichen. Diese kognitiven Prozesse sind keinesfalls pathologisch, sie sind völlig normal. Wir können allerdings lernen, sie zu erkennen – und besser mit ihnen umzugehen, um noch besser Entscheidungen zu treffen oder um uns von ihnen nicht in die Irre führen zu lassen.
Typische Denkfallen im Führungs- und Berufsalltag
Folgend möchte ich Dir einige der bekanntesten kognitiven Verzerrungen aus dem Berufsalltag erklären und diese anhand von Beispielen aufzeigen.
Die Verfügbarkeitsheuristik
Bei der Verfügbarkeitsheuristik stützen wir Entscheidungen auf Informationen, die uns besonders präsent oder emotional geladen sind – nicht primär auf objektive Fakten. Tversky & Kahneman (1973) zeigten, dass Menschen die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen systematisch überschätzen, wenn sie leicht erinnerlich sind – unabhängig von ihrer realen Häufigkeit.
Beispiele:
Ein Projektleiter erinnert sich an ein kürzlich gescheitertes Projekt und schätzt deshalb das Risiko neuer Projekte viel höher ein – obwohl statistisch gesehen die Erfolgsquote unverändert geblieben ist.
Eine Personalverantwortliche hat kürzlich erlebt, dass ein Bewerber aus einer bestimmten Universität schlechte Leistungen erbracht hat. Deshalb bewertet sie alle Bewerbenden aus dieser Universität automatisch kritischer, unabhängig von deren tatsächlicher Qualifikation.
Ein Geschäftsleiter hört in den Medien viel über Cyberangriffe und beschliesst daraufhin, das IT-Sicherheitsbudget massiv zu erhöhen – obwohl eine sachliche Risikoanalyse vielleicht andere Investitionen dringlicher erscheinen lassen würde.
Der Ankereffekt
Der Ankereffekt ist eine kognitive Verzerrung, bei der Menschen sich bei Entscheidungen oder Schätzungen stark an einem einmal genannten Ausgangswert («Anker») orientieren – selbst wenn dieser Wert zufällig oder irrelevant ist. Selbst dann, wenn man den Anker für unrealistisch hält, bleibt der Effekt bestehen. Dieser Effekt kann besonders stark bei Unsicherheit oder fehlender eigener Vergleichswerte wirken. Kahneman & Tversky (1974) fanden heraus, dass selbst zufällige Zahlenurteile als Anker wirken – ein Phänomen, das bis heute vielfach bestätigt wurde.
Beispiele:
Ein Lieferant nennt zu Beginn einen Stückpreis von Fr. 15.-. Obwohl der Kunde ursprünglich mit Fr. 10.- kalkuliert hatte, akzeptiert er nach Verhandlung einen Preis von Fr. 13.- ohne weiteres, weil der Ausgangspreis die Verhandlungsbasis verschoben hat.
Ein Teammitglied sagt in der ersten Einschätzung eines neuen Projekts: «Das wird sicher extrem kompliziert.» Obwohl objektiv betrachtet Teile des Projekts einfach sind, prägt diese Aussage die weitere Diskussion. Das ganze Team bewertet das Projekt tendenziell als schwieriger als es tatsächlich wäre.
Ein Vorgesetzter beginnt das Mitarbeitergespräch mit: «In diesem Jahr gab es schon einige Schwierigkeiten…». Selbst wenn danach viele positive Punkte folgen, bleibt der erste negative Eindruck haften und beeinflusst die Gesamtwahrnehmung des Gesprächs auf beiden Seiten.
Sunk Cost Fallacy
Die Sunk Cost Fallacy (deutsch: «Fehlschluss der versunkenen Kosten») beschreibt eine kognitive Verzerrung, bei der Menschen an Entscheidungen festhalten, nur weil sie bereits Zeit, Geld oder Energie investiert haben – auch wenn ein Abbruch rational und oft auch wirtschaftlich besser wäre. Die Fortsetzung wird gerechtfertigt, um frühere Verluste nicht «umsonst» erscheinen zu lassen, obwohl diese Aufwände objektiv unwiederbringlich sind. Milkman, Chugh & Bazerman (2009) belegten, dass Organisationen oft irrational an gescheiterten Projekten festhalten – eine Form der Verlustvermeidung, die ökonomisch nicht sinnvoll ist.
Beispiele:
Ein IT-Projekt läuft massiv über Budget und Zeitrahmen, doch das Management entscheidet sich, es weiterzuführen, «weil schon so viel investiert wurde» – anstatt den Verlust zu begrenzen und ein neues System zu evaluieren.
Obwohl eine Marketingkampagne keine Wirkung zeigt, wird weiteres Budget investiert, «damit sich die bisherigen Ausgaben lohnen».
Ein Unternehmen investiert viel in die Weiterbildung eines Mitarbeiters für eine Führungsposition. Obwohl klar wird, dass er sich nicht als Führungsperson eignet, hält man an ihm fest, «weil schon so viel in seine Entwicklung gesteckt wurde».
Der Bestätigungsfehler (Confirmation Bias)
Der Bestätigungsfehler beschreibt die Tendenz, gezielt Informationen zu suchen, auszuwählen oder zu interpretieren, die die eigenen bestehenden Überzeugungen oder Erwartungen stützen – während widersprüchliche Fakten ignoriert oder abgewertet werden. Man sieht die Welt also nicht objektiv, sondern durch den Filter der eigenen Meinung. Nickerson (1998) beschreibt den Bestätigungsfehler als eine der stärksten und am weitesten verbreiteten kognitiven Verzerrungen.
Beispiele:
Ein Vorgesetzter hält einen Mitarbeiter für besonders engagiert und achtet deshalb vor allem auf positive Beispiele und Erfolge, die auf diesen Mitarbeiter zurückzuführen sind – kleinere Versäumnisse werden dagegen übersehen oder verharmlost.
Ein Team glaubt an den Erfolg eines neuen Produkts und sucht gezielt Studien, Umfragen und Feedbacks, die diese Einschätzung bestätigen – kritische Marktanalysen werden ausgeblendet.
Eine Unternehmensleitung favorisiert eine bestimmte Expansionsstrategie und interpretiert alle Marktdaten im Sinne dieser Strategie – Warnzeichen wie neue Wettbewerber oder veränderte Kundenbedürfnisse werden verdrängt.
Der Halo-Effekt
Der Halo-Effekt beschreibt die kognitive Verzerrung, bei der ein einzelnes auffälliges Merkmal (z. B. Sympathie, Aussehen, Auftreten) die Gesamtwahrnehmung einer Person oder eines Projekts überstrahlt. Positive oder negative Eigenschaften werden fälschlicherweise auf andere Bereiche übertragen. Man beurteilt also nicht mehr differenziert, sondern lässt sich von einem starken ersten Eindruck leiten. Thorndike (1920) prägte den Begriff „Halo-Effekt“, als er feststellte, dass militärische Vorgesetzte attraktive Soldaten in mehreren Leistungsdimensionen besser beurteilten.
Beispiele:
Ein gut aussehender und sympathischer Arzt wird von Patientinnen und Patienten oft automatisch auch als besonders kompetent und vertrauenswürdig eingeschätzt – selbst wenn sie seine fachlichen Qualifikationen oder Behandlungsergebnisse gar nicht objektiv beurteilen können. (wie hast Du Dich spontan entschieden auf dem Bild oben?)
Ein Bewerber ist besonders charismatisch und eloquent. Aufgrund dieses ersten Eindrucks schätzt der Interviewer seine fachlichen Fähigkeiten höher ein, auch ohne tiefgehende Prüfung.
Ein Projektteam stellt ein Vorhaben in einer spektakulären und überzeugenden Präsentation vor. Die Führungsetage beurteilt daraufhin auch die Durchführbarkeit und die Wirtschaftlichkeit des Projekts als positiver, obwohl kritische Details fehlen.
Fundamentaler Attributionsfehler
Der Fundamentale Attributionsfehler ist eine verbreitete kognitive Verzerrung, bei der wir das Verhalten anderer Menschen hauptsächlich auf deren Persönlichkeit, Charakter oder Absichten zurückführen – und dabei die tatsächlichen situativen Einflüsse oder Umstände vernachlässigen. Umgekehrt bewerten wir unser eigenes Verhalten eher situationsbezogen: Wenn wir selbst Fehler machen oder uns unangemessen verhalten, führen wir dies auf äussere Umstände wie Stress, Zeitdruck oder schwierige Bedingungen zurück. Ross (1977) nannte diesen systematischen Denkfehler «fundamentaler Attributionsfehler» – er ist besonders stark bei negativem Verhalten anderer.
Beispiele:
«Er macht ständig Fehler, weil er unkonzentriert arbeitet. Wenn mir ein Fehler passiert, dann nur, weil ich wegen der vielen Aufgaben völlig unter Zeitdruck stand.»
«Sie sagt im Meeting nie etwas, weil sie keine eigenen Ideen hat. Wenn ich heute still war, dann nur, weil die anderen keine Gelegenheit zum Reden gelassen haben.»
«Er lehnt neue Ideen immer ab, weil er von Natur aus stur ist. Wenn ich kritisch bin, dann nur deshalb, weil die neue wirklich schlecht ist.»
Warum das alles wichtig ist – besonders in der Führung
In der Führung geht’s oft um Unsicherheit, Menschen und komplexe Entscheidungen (häufig noch unter Zeitdruck). Kognitive Verzerrungen können dabei:
die Objektivität von Entscheidungen verzerren,
zu systematischen Fehleinschätzungen von Mitarbeitenden, Situationen und Risiken führen,
die Kommunikation und das Vertrauen im Team beeinträchtigen,
innovative Ideen blockieren, weil abweichende Meinungen vorschnell abgewertet werden,
unnötige Konflikte auslösen oder verstärken,
Ressourcen verschwenden, weil an falschen Projekten oder Strategien festgehalten wird,
die Entwicklung von Talenten behindern, wenn Fähigkeiten falsch eingeschätzt werden,
Veränderungsprozesse erschweren, weil alte Denkmuster nicht hinterfragt werden.
Und was kannst Du tun?
✅ Bewusstmachen:
Der wichtigste erste Schritt ist, sich überhaupt klarzumachen, dass kognitive Verzerrungen existieren und dass niemand völlig frei davon ist – auch erfahrene Führungskräfte nicht.
✅ Langsamer entscheiden:
Schnelle Entscheidungen fördern Denkfehler. Nimm Dir wenn möglich Zeit, um Informationen zu prüfen und Alternativen abzuwägen.
✅ Perspektivwechsel üben:
Aktiv andere Blickwinkel einnehmen - «Wie würde eine neutrale Person die Situation sehen?» - oder andere Meinungen gezielt einholen.
✅ Strukturiert analysieren:
Mit Checklisten, Entscheidungsmatrizen oder Pro-Contra-Listen arbeiten, um emotionale Urteile durch rationalere Abwägungen zu ergänzen.
✅ Daten und Fakten einbeziehen:
Subjektive Eindrücke durch objektive Informationen ergänzen. Zahlen, Berichte und Feedbacks systematisch nutzen.
✅ Widerspruch willkommen heissen:
Ein Umfeld schaffen, in dem kritische Fragen und andere Meinungen nicht als Störung, sondern als wichtige Ergänzung angesehen werden.
✅ Reflexion fördern:
Eigene Entscheidungen und Einschätzungen regelmässig hinterfragen: Auf welcher Basis treffe ich diese Entscheidung? Welche anderen Erklärungen könnte es geben? Welche Annahmen habe ich, und stimmen sie wirklich?
✅ Weiterbildung und Coaching:
Gezielte Trainings zu Entscheidungspsychologie, Fehlerquellen und kognitiver Verzerrung helfen, typische Denkfallen zu erkennen und besser zu steuern.
Fazit: Es denkt in uns – aber nicht immer schlau
Unser Gehirn meint es gut, aber manchmal trickst es uns aus. Kognitive Verzerrungen sind wie kleine Denk-Gremlins: unauffällig, aber wirksam. Die gute Nachricht: Wer sie kennt, kann sie entschärfen. Und genau da beginnt bewusstes Entscheiden – im Alltag, im Beruf und in der Führung.
Bohnet et al. (2016) zeigten beispielsweise sehr eindrücklich, dass anonyme Bewerbungsverfahren zu mehr Diversität führen – weil unbewusste Verzerrungen wie Geschlecht oder Name keine Rolle mehr spielen. Kognitive Verzerrungen sind kein persönliches Problem, sondern ein systemisches. Wenn Du als Führungskraft darüber Bescheid weisst, kannst Du gezielt gegensteuern – und bessere, reflektiertere Entscheidungen treffen. Rosenthal (2003) zeigte in einer Meta-Analyse: Führungskräfte mit positiven Erwartungen formen tatsächlich leistungsstärkere Teams – einfach, weil sie mehr zutrauen und mehr investieren. Das nennt man Self-Fulfilling Prophecy.
Wenn Du Lust hast, mehr darüber zu erfahren, wie Du Deine Entscheidungen reflektierter und bewusster treffen kannst: In meinen Coachings arbeite ich oft genau mit solchen Denkfallen – und wie Du sie elegant umschiffst.
Quellen:
• Tversky, A., & Kahneman, D. (1973). Availability: A heuristic for judging frequency and probability. Cognitive Psychology.
• Kahneman, D., & Tversky, A. (1974). Judgment under uncertainty: Heuristics and biases. Science.
• Milkman, K. L., Chugh, D., & Bazerman, M. H. (2009). How can decision making be improved? The Quarterly Journal of Economics.
• Nickerson, R. S. (1998). Confirmation bias: A ubiquitous phenomenon in many guises. Review of General Psychology.
• Thorndike, E. L. (1920). A constant error in psychological ratings. Journal of Applied Psychology.
• Ross, L. (1977). The intuitive psychologist and his shortcomings: Distortions in the attribution process. Advances in Experimental Social Psychology.
• Bohnet, I., van Geen, A., & Bazerman, M. (2016). When performance trumps gender bias: Joint vs. separate evaluation. Management Science.
• Rosenthal, R. (2003). Pygmalion Effect. Meta-Analyse in Educational Psychology.
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